Ana Amil

Foto: Andreas Muhme

Autor und Journalist Siggi Seuß über mich für das Jahrbuch der Alfred Toepfer Stiftung 21/22

Doña Ana

oder: „Mach mal die Tür zu, ich muss durch!“ 

Das Stadtteilmagazin „Szene Hamburg“ hat Ana Amil kürzlich zur „Hamburgerin des Monats“ gekürt. Nach unserem Gespräch frage ich mich, warum sie eigentlich nicht „Hamburgerin des Jahrzehnts“ geworden ist.

Schon das, was ich von ihr vorab auf Online-Seiten erfuhr, machte mich leicht schwindelig. Ana Amil ist Stadtteilaktivistin auf/in St. Pauli. Im Gespräch traf ich auf eine toughe Mitvierzigerin, die nur einmal ihren sprudelnden Gedankenfluss unterbrach, als ich sie fragte, was das Allerwichtigste sei, das sie umtreibe. Langes Schweigen. Dann: „Mich treibt die Vision an, dass alle Menschen ein gleichwertiges, glückliches, entspanntes Miteinander haben. Und meine Sprache, mein Werkzeug, ist Kunst und Kultur. Und die Wege dahin sind vielfältig.“ Allein schon bei Ana Amil sind die Wege dahin vielfältig. Sie ist Kulturmanagerin, Stadtteilaktivistin, Vorsitzende des Kabinetts der schönen Künste, Ausstellungskuratorin, Veranstaltungsorganisatorin, Dozentin, Modedesignerin, Rock- und Popsängerin, Gedichteschreiberin, Merchandising-Expertin, Kollektivistin, alternative Lebensstilistin, Netzwerkerin, Rollschuhläuferin, Basketballspielerin, Familienmensch mit Mann Paul und Patenhund Knut, mit vier Patenkindern und zwei Neffen. Sie war eigentlich schon kurz vor ihrer Geburt Aktivistin, denn ihre Mutter erinnert sich immer wieder gern daran, dass Klein-Ana bereits im Mutterleib aufmüpfig gewesen sei und sich lautstark zu Wort gemeldet habe. Das ging dann in den Folgejahren so weiter: Handfeste Verteidigerin ihres kleinen Bruders nach ungerechten Angriffen mit fünf. Zeitungsausträgerin mit zwölf. Begnadete Jungsängerin im katholischen und im evangelischen Kirchenchor. Danach manchen Mist gebaut, sagt sie, wie das halt leidenschaftliche Pubertiere so tun, besonders wenn sie ein kaum zu zügelndes Temperament haben. Schulsprecherin am Gymnasium. Ehrenamtliche Helferin im Flüchtlingsheim. Kuratorin von Schulausstellungen. Babysitterin, Helferin im Altenpflegeheim, Fachabitur. Mit 17 aus dem Elternhaus. Mit 18 auf St. Pauli. Antifakämpferin, Frauenrechtlerin, Tierschutzaktivistin, Betreuerin in der Jugendgerichtspflege, abgebrochenes Studium von Wirtschaft und Politik, Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin und und und. Und jetzt studiert sie an der Hochschule für Musik und Theater, um ihr Fachzertifikat als Kulturmanagerin zu erlangen.

Auf der Suche nach einer Gemeinsamkeit zwischen uns fand ich dann doch etwas völlig Unerwartetes: Eine Großmutter. Eine Großmutter als Vermittlerin zwischen unseren so verschiedenen Welten. Meine böhmische Großmutter war die erste und wichtigste Mutmacherin in meinem Kinderleben. Anas Großmutter mütterlicherseits lebte in ärmlichen Verhältnissen in Nordportugal, war zeit ihres Lebens Analphabetin, brachte vierzehn Kinder zur Welt, von denen sechs starben. Ana Amil erinnert sich: „Sie war die würdevollste Person, die ich in meinem gesamten Leben kennengelernt habe. Vieles, was sie tat, war für mich manchmal nicht zu verstehen, weil ich weiß, wieviel Hunger sie gelitten hat. Sie war nebenbei auch Hebamme und unglaublich hilfsbereit. Sie hat immer an die Solidarität geglaubt und sie hat Zusammenhalt gelebt. Dabei war sie freundlich und fröhlich. Ich habe sie nie schreien gehört. Und als ihr Mann gestorben war, hat sie sich noch die Welt angeguckt. Sie wurde ihr ganzes Leben lang Dona Gloria genannt. Das war eine Ehrerbietung.“

Großmütter verbinden - kluge, freundliche, weltzugewandte Großmütter, die einen jungen Menschen wie selbstverständlich an der Hand nehmen und den aufrechten Gang durchs Leben lehren, selbst wenn sie nur ein Meter und fünfzig hochgewachsen sind.

Doch eine Großmutter allein kann Anas enorme Willenskräfte nicht erklären. Dazu braucht es, zweitens, noch die positive Reibung zweier Kulturen, zwischen ihren portugiesischen und ihren spanischen Wurzeln also. Dass sich der Sanftmut ihrer portugiesischen Großmutter mit der Impulsivität, dem Gerechtigkeitssinn und dem politischen Engagement ihres spanischen Vaters – eines Tischlers – verband, erzeugte einen Energieschub, von dem Ana heute noch reichlich schöpft: „Mein Vater und meine Großmutter sind die prägendsten Menschen in meinem Leben.“ Dass sie sich, drittens, in Quickborn als Tochter von Gastarbeitern zur Welt gekommen, mit den Realitäten der norddeutschen Provinz herumschlagen musste, um wahrgenommen und anerkannt zu werden, war schließlich eine ebenso wichtige Energiequelle für Impulsivität, Ernsthaftigkeit und Beharrlichkeit ihres Tuns. Sie würde diese Verbindung „Haltung“ nennen, die die höchst unterschiedlichen Kraftquellen bündelte, bevor das ganze System implodierte oder explodierte. Ana: „Was mich getrieben hat: Ich war ganz lange wütend. Auf alles. Auf Menschen. Auf Gesellschaft. Auf Politik. Am meisten hat es mich wütend gemacht, dass ich das Gefühl hatte, nicht teilnehmen zu dürfen. Zwar wuchs ich behütet in einer deutschen Kleinstadt auf, ging als Kind eines Tischlers und einer Putzfrau aufs Gymnasium, wo sich die Akademikerkinder tummelten, behauptete mich, hatte viele Freunde. Aber mich hat wütend gemacht, dass ich zwar Glück hatte, andere jedoch nicht. Dass ich nicht alleine dagegen kämpfen konnte, habe ich bald erkannt. Ich brauche Menschen, die ich mitreiße. Das war permanent anstrengend.“

Plötzlich geht mir ein Licht auf, an wen mich Ana Amil erinnert, auch wenn sie alles andere ist als eine Ritterin von der traurigen Gestalt. An Don Quijote. Ja, sie hat in ihrem Leben oft gegen Windmühlen gekämpft, die sie für Riesen hielt und gegen mächtige Heere, die nichts anderes waren als staubumwölkte Hammelherden. Häufiger jedoch stellte sie sich Riesen entgegen, die zwar nicht so riesig waren, wie sie es sich selbst einbildeten, aber eben doch Machtmenschen mit einem Hang, Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zu befördern. „Ich hab Don Quijote echt geliebt. Mein Vater musste mir die Geschichten immer wieder erzählen. Don Quijotes Kampf gegen die Windmühlen hat mich mein ganzes Leben lang geprägt. Ich glaub, ich hab gegen alle Windmühlen dieser Welt gekämpft.“ Auch, dass sie immer eher gegen Riesen als gegen Zwerge kämpfen wollte, hat sie mit Don Quijote gemein: „Ich wollte eigentlich immer eine Klasse über mir kämpfen. Mein Vater hat mich ermahnt: 'Du musst erst einmal Leichtgewicht schaffen und dann kannst du dich mit dem Schwergewicht anlegen.' Mein Ding aber war: 'Mach mal die Tür zu, ich muss durch.'“ - „War ein Sancho Panza an Ihrer Seite?“ - „Immer. Ich hatte ganz viele Sanchos. Das ist ja der Grund, warum ich überhaupt hier sitze. Ohne die Unterstützung der Sanchos um mich herum – alle divers wie das Leben! - würde ich hier nicht so sitzen, nicht die Arbeit machen können, die ich tue. Ich hatte immer Menschen um mich, die mich bestärkten und förderten und die verstanden, dass ich es ernst meine.“ 

Und damit kommen wir natürlich zur Stadtteilarbeit auf St. Pauli, der sie sich mit aller Kraft verschrieben hat. Für größere Aufmerksamkeit sorgte, zum Beispiel, das digitale Feminité Museum, das auch für analoge Ausstellungen genutzt wird. Damit werden Kunst, Geschichten und Geschichte von Menschen, die sich weiblich lesen auf 180 Jahren St. Pauli lebendig. Im Mittelpunkt steht hier augenblicklich die Ausstellung „18 Weiblichkeiten aus St. Pauli“, die von der Toepfer Stiftung mit einer Ausstellung in der Millerntorwache gefördert, mit über 20.000 Zugriffen erfolgreich online besucht wurde und später auch analog im Gemeinschaftstreff „Teehaus“ in den Großen Wallanlagen zu sehen war, bevor sie weiterwanderte und nun mit neuen St. Pauli-Biografien ergänzt wird. „Alles, was ich mache, muss niedrigschwellig und barrierefrei stattfinden. Ich habe lange nach einer Möglichkeit gesucht, irgendwo ausstellen oder Lesungen organisieren zu können, wo Menschen mit Behinderung, ältere Mitbürger und Bürgerinnen, teilhaben können. In meinem Team arbeiten nonbinäre Menschen mit, Menschen mit Transhintergrund, Menschen mit migrantischem Hintergrund. Das ist total wichtig für mich, weil ich den Blick darauf behalten will.“

Selbst wenn mir Hamburgs Szenegeschehen fremd ist, drängt sich die Frage auf, die sich landauf landab in den Kulturszenen stellt. Leben und arbeiten auch engagierte Gruppen vor dem Hintergrund zunehmender Polarisierungen in der Gesellschaft mehr denn je in ihren jeweiligen Blasen, weil sie dort so etwas wie Geborgenheit oder sogar Heimat finden? Ana: „Es gibt hier einen Ausdruck: 'Alle butschern so vor sich hin', die rühren also alle in der eigenen Suppe. Die lassen einen machen, machen ihr eigenes Ding und haben so gar nicht den Blick für Andere. Ich bin aber halt vom Typus her anders, weil ich ja ganz anders aufgewachsen bin. Wenn man sich unsere Webseiten anguckt, steht da drin: 'Kontaktiert uns, solidarisiert euch, vernetzt euch!' Ist aber manchmal in der Realität nicht so einfach. Viele sind halt mit sich selbst beschäftigt. Ich bin aber nicht so. Ich hab mal zu unserem Kultursenator gesagt: 'Wissen Sie was: Ich kann Gosse und Parkett.' Hat er tierisch gelacht.“

Dass ein träger bürokratischer Apparat, dass buchhalterische Verpflichtungen und manch Inkompetenz von Sachwaltern den Gang der Dinge manchmal behindern – keine Frage. Aber Ana Amil hat auch überraschend gute Erfahrungen im Umgang mit Behörden und kommunalpolitischen Entscheidern gemacht. Das schreibt sie nicht zuletzt der Hartnäckigkeit und Ernsthaftigkeit zu, mit der sie und ihr Team um die Projekte kämpfen. Ein bisschen erinnert mich das an das, was die Berliner Frauenrunde um Lieselotte Klein miteinander verbindet: Eine freundliche Frechheit, mit der sie ihr selbstbestimmtes Handeln verteidigen.

Selbst wenn Ana ihre Berechnung, die sie mir am Ende des Gesprächs augenzwinkernd mitteilt, nicht so ganz furchtbar ernst meint: Es treibt sie der Gedanke an, all das könnte zu einer Anaischen Weltrettungsformel gerinnen, was sie seit ihrer vorgeburtlich aktivistischen Zeit an bedeutenden Prägungen für ihr autonomes Leben erfahren hat: Durch die portugiesische Großmutter, den spanischen Vater, durch Miguel de Cervantes, durch ihre Zeit als Quickborner Gastarbeiterkind, durch ihr vielfältiges Leben auf St. Pauli und den offenen Blick auf die Diversitäten in dieser Welt: „Ich hab mal ausgerechnet, wenn ich in meinem jetzigen Leben 25 Menschen inspiriere und sie so nachhaltig beeinflusse, dass sie sagen: 'Die Frau war mein Vorbild und ich mach das gleiche wie sie', dann haben, wenn jede*r wieder 25 und von denen wiederum jede*r 25 generiert, dann haben innerhalb von zwei Generationen 350.000 Menschen das Leben nachhaltig verändert. Wenn alle das so machen würden, dann bräuchten wir weltweit nur knapp 14.000 Menschen und die ganze Welt hätte sich verändert. Es ist total einfach.“ - „Aber aus den 25 Menschen sollten doch bitte nicht lauter kleine Anas werden. Wo bleibt da die Diversität?“ - „Naja, daraus werden ja auch ein paar Yusufs und Nadines. Bitte nicht alle so wie ich! Das wär ja total nervig!“

REFERENZEN (Auswahl)

  • 1998- 2001 Studium an der Hochschule für Wirtschaft und Politik
  • 2001- 2003 Kursleitung Jugendgerichtshilfe Harburg
  • 2006- 2015 Sponsoring-Koordination und Merchandising für Frau Hedi`s Tanzkaffee
  • 2012 Gründung des Modelabels The Golden Age/POLITBUTIK
  • 2017 Kursleitung im Mäd*chenzentrum Eimsbüttel
  • 2017-2019 Programmgestaltung und Kuration Wohl-oder-Übel-Salon
  • 2018 Sponsoring- und Fördermittelkoordination bei Mamalies
  • 2019 Gründerin und künstlerische Leitung des FEMINITÉ-Museums
  • Seit 2019 Vorstand und künstlerische Leitung des gemeinnützigen Vereins Kabinett der schönen Künste e.V. 
  • Seit 2019 Studium an der Hochschule für Musik und Theater (Fachzertifikat Kulturmanagement)
  • Oktober 2022 Teilnahme am Projekt Community Lab in der Hamburger Kunsthalle
  • Seit 2022 Programmgestaltung und Kuration im Teehaus Grosse Wallanlagen
  • 2022 und 2023 Projektleitung Kunstkurse im Kulturladen Hamm
  • Seit 2023 Projektleitung im Lütt´opia- Raum für Transformation
  • Juni-September 2023 Residenzprojekt in der Millerntorwache
  • Oktober 2023 Teilnahme an der Kreativ- und Arbeitsresidenz Gut Siggen (Alfred Toepfer Stiftung)
  • Ab 2024 freie Kuratorin der Millerntorwache
  • Seit März 2024 Stadtentwicklung beim Projekt Bergedorf NOW
  • Mai 2024 Schreibresidenz im Skulpturengarten Damnatz

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E-mail: info@ana-amil.de

Anschrift: Breiter Gang 15, 20355 Hamburg

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